Das Plakat im Zeitspiegel

Herbert E. Stüssi

Hans Falk, der Maler und Plakatkünstler, hat uns den Begriff zugespielt, der über diesem Beitrag steht. Wir fanden ihn auf einem Plakat, das er 1949 entwarf und damals als Blickfang für eine Ausstellung von Plakaten aus der Sammlung Schneckenburger, die heute im Besitz der Plakatsammlung des Kunstgewerbemuseums Zürich ist, diente. Wir machen uns diese Formulierung zu eigen, weil das Wesen des Plakates nicht glücklicher und knapper umschrieben werden kann. Gewiss: man nennt das Plakat auch das Wandbild der Strasse und die Plakatwände darum die Galerie der Strasse oder die Wandzeitung der Strasse. Aber drückt sich darin etwas anderes aus, als dass eben das Plakat zu einem Spiegel der Zeit wird? In den Plakaten, die einer langen Zeitspanne entstammen und nun Sammlern und Kunstinteressierten aus dem In- und Ausland in einer Auktion angeboten werden, lesen sich politische Strömungen, soziale Einflüsse, wirtschaftliche Gegebenheiten, psychologische Momente und künstlerische Richtungen ab. Das weltoffene Auge – auch so dürfen wir das Plakat heissen! – formuliert seine Zeitkritik. Am Plakat aber misst sich zur gleichen Zeit auch der Stand des übrigen grafischen Schaffens. Es wird zum sichtbaren Ausdruck des Niveaus, den das Werbeschaffen zu einer genau umrissenen Zeit erreicht hat.
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Der Bildteil unserer Auktionskataloge fängt diese verschiedenartigen Strömungen und Einflüsse in ausgewählten Plakaten ein.
Das festliche Präludium hat also Hans Falk angestimmt. Auf seinem Plakat dominieren Henne und Papagei. Deuten sie nicht zwei Wesenszüge des Plakates? Bald überwiegt zwar der eine, bald der andere, und nur im Idealfall halten sie sich im Gleichgewicht oder verleihen dem Plakat durch ihre Gegensätzlichkeit die künstlerische Spannkraft. Die nützliche Henne: sie hat dem Auftraggeber goldene Eier zu legen. Der schmucke Papagei: er hat gewissermassen das ästhetische Prinzip zu verkörpern. Oder deuten wir falsch, und der Papagei sollte gut ausgedachte und wohl einstudierte Werbeslogans ausrufen? Durch dieses einfallsreiche Sinnbild wird aber nicht mehr und nicht weniger ausgesagt, als dass der Aufgabenkreis des Plakates unbegrenzt ist. Mit ihm wird nicht nur für Gebrauchsartikel geworben. Das ganze Leben kann durch das Plakat erfasst werden. Die künstlerische Wandlung der Assaugen zu verfolgen, macht den Zeitspiegel, den Plakate uns vorhalten, besonders reizvoll. Selbst den frühesten Beispielen sind drucktechnisch keine Mängel nachzuweisen. Eine gestalterische Überzeugungskraft geht aber nicht durchwegs von ihnen aus. Es brauchte eine Abkehr von der naiven „Anbetung der Realität“, eine Abwendung vom Realismus, der am Wesen des Plakates vorbeizielte, wenig zu unterscheiden pflegte zwischen reinem und angewandtem Bild oder sich gar im Zusammensetzen heterogener Bildelemente und hinzugefügter Schrift gefiel. Diese illustrative Erzeugnisse erfüllten nur im Äusserlichen die Aufgabe des Plakates; der selbständige, innere Auftrag und das Gesetz, nach dem der neue Werbeträger sich ausrichten wird, mussten noch gefunden werden. Mancher gute Künstler konnte sich nicht von der realistischen Darstellung lösen; statt zum Sinngehalt, einer Übereinstimmung von Zweck und Gestaltung vorzustossen, verblieb er oft im bloss Allegorischen, das zwar nicht selten virtuos vorgebracht wurde, heute jedoch nicht mehr über eine gewisse innere Leere hinwegzutäuschen vermag. In diese Situation hinein versetzen uns einige frühe Plakate des Auktionsangebotes. Noch hatten die Leute Zeit gemächlich anzusehen. Nach dem Ersten Weltkrieg waren neue Voraussetzungen da. Die Elektrizität hielt Einzug. Trams fuhren durch die Strassen. Elektrisches Licht fiel auf die Plakatsäulen. Im steten Getriebe gab es kein geruhsames Betrachten mehr. Die Bildschrift musste neue Formen annehmen, wenn sie den Einzelnen noch ansprechen und erreichen wollte. „La fin du siècle“ ist der Begriff, in dem sich die grosse Wandlung in der Plakatkunst Frankreichs vollzog, die ihre Ausstrahlungen auf die Westschweiz hatte. Der deutsche Jugendstil aber bestimmte das Gesicht von Pionierplakaten, wie sie deutschschweizerische Druckereien im ersten Dezennium nach der Jahrhundertwende verliessen. Reizvolle Zeugen jener Epoche sind beispielsweise die Affichen von Carl Moos. Der Stilwandel vom Realismus zum Symbolismus mit ausgesprochen schweizerischer Prägung stand dann im Zeichen des monumentalen Schaffens von Ferdinand Hodler. Denn dieses wirkte sich nachhaltig auf das Plakat, den „kleinen Bruder des Wandbildes“, aus. Das Plakat nimmt zwar nicht der Menschheit grosse Gegenstände zum Vorwurf, vermag aber mit ähnlichen Mitteln wie das eigentliche Wandbild, die condition humaine des Alltags zum Thema zu erheben: die dem nüchternen Schweizersinn vertraute Sphäre bürgerlich geschäftiger Nützlichkeit. In der meisterlichen Beschränkung auf das Wesentliche und in der Kunst des Weglassens treffen sich die Stilmittel von Wandbild und Plakat.

plakat-208163Manches ältere Beispiel legt Zeugnis dafür ab. Hier liegt ein einprägsames Bildstenogramm vor. Dort ist eine Mitteilung in ein Zeichen gebannt. Sie wirkt rasch und kann spontan aufgenommen werden, diese einfache Zeichensprache, durch welches uns ein Gegenstand bereits in seiner Abstraktion anredet. Was wird mit solchen Abbreviaturen erreicht? Das Gespräch zwischen Produzent und Konsument bahnt sich ohne Umschweife an. Zahlreiche Plakate aus den ersten zwanzig Jahren des 20.Jahrhunderts sind in die Geschichte eingegangen. Burkhard Mangold, Emile Cardinaux, Cuno Amiet oder Maurice Barraud steht als Signatur unter Arbeiten, die oft als kühner Wurf, revolutionäres Fanal und Programm zugleich anmuten. Ein Bann war gebrochen, ein neuer Stil gefunden. Er ist Ausgangspunkt für viele Plakatmeister, die nun ihren eigenen, ihnen gemässen Weg der Darstellung beschreiten werden. Zu Emile Cardinaux gesellen sich unter anderen Wilhelm Friedrich Burger, Ernst Emil Schlatter, Otto Baumberger und auch der Alpenmaler Hans Beat Wieland und Eduard Stiefel. Diese Künstler übermittelten dann einer ganzen Generation von Grafikern die Impulse zu plakatgerechten Arbeiten. Die Jüngeren machten sich die zum Durchbruch gekommenen Erkenntnisse von der Ausdruckskraft der Linie und der farbigen Fläche zu eigen. Die Annäherung zwischen freier und angewandter Kunst hat sich vollzogen. Eine Gliederung nach künstlerischen Entwicklungsstufen lässt sich nun nicht mehr durchführen. In thematischen Gruppen schillert aber nicht minder jene Vielfalt in Idee und Ausführung durch, die das Wort vom Plakat als Zeitspiegel bewahrheitet. Mit Gottfried Keller wäre, in zwiefachem Sinne, über die eine Folge „Kleider machen Leute“, vereint in der Spezialauktion „Fashion“ zu setzen, über eine andere „Von kleinen und grossen Dingen im Alltag“ und deine dritte müsste den pantagruelischen Titel „Vom Essen und Trinken“ erhalten. Und hier fänden wir die Überschrift „Ausstellungen werben mit guten Plakaten“. „An die Urnen Stimmbürger!“ stände dort als Vorspann zu den Wahlplakaten, und „Keine Not ohne Hilfe“ wäre schönes Begleit für die Sammlungsplakate. Und eine Gruppe schliesslich, die uns verlockend aus dem Alltag entführen will, trüge die Inschrift „Vom Glück des Reisens“ oder „Hinaus in Freie“. Die Plakate illustrieren eine interessante Zeit - und Kulturgeschichte. In ihrer Gesamtheit stellen sie einen wesentlichen Beitrag an die Bemühungen um die allgemeine Förderungen und das Ansehen unseres schweizerischen Plakatwesens überhaupt dar. Die gemeinsame Leistung von künstlerischem Gestalter und qualitätsbewusster Reproanstalt und Drucker wäre aber nicht erreichbar, stände nicht immer die Einsicht dahinter, dass jedes Plakat einen Sonderfall darstellt und dass über die werbemässige Absicht hinaus eine geschmacksbildende und künstlerische Funktion mit ihm verbunden ist. Auf dem Land oder in kleinen Städten übernimmt die Plakatwand oft geradezu die Aufgabe einer Galerie, die den Beschauer mit der farbigen Gestaltung einer Idee zusammenbringt. Die Anregungen, die von der freien Kunst ausgehen, finden sich in der Gebrauchsgrafik und im besondern im Plakat auf eine für jeden Betrachter verständliche Art und Weise umgesetzt.
plakat-202336Wir begegnen dabei Lösungen, die zum Ausdruck einer neuen Einheit von Kunst und Leben werden und zu der eingangs schon skizzierten Annäherung von freier und angewandter Kunst führen. Wir sprachen bereits davon, wie das Plakat das ganze Leben zu erfassen beginne und wie in ihm eine künstlerische Wandlung abzulesen sei. Wo könnte sich dies eindrücklicher dokumentieren als im Reich der Mode und der Textilien? Einige Jahrzehnte liegen zwischen den beiden strengen und dennoch festlichen Plakaten für Herrenkleider von PKZ und den duftigen, charmanten Impressionen von Bally und Grieder.
Sicherlich wäre das moderne Leben ohne das Plakat um eine farbige Nuance ärmer. Die Vielfalt, ja die Fülle der Plakatkunst ist nicht zu übersehen, und das Bilderbuch der Strasse besitzt viele Seiten. Seine Blätter sind nicht für die Ewigkeit geschaffen, sondern nur für einen Augenblick (einen Blick der Augen von Passanten). Unverdientermassen fallen besonders die Plakate, welche die kleinen und grossen Dinge des Alltags anzuzeigen haben rasch wieder der Vergessenheit an. Blättern wir darum etwas in dieser Gruppe, wo für Reissverschlüsse, Briefpapier und Waschmittel, für Nähseide, Brechkoks und Schönheitsmittel geworben wird. Was fällt zuerst auf? Die hohe Qualität der einzelnen Plakate, zum Sinnbild für die Qualität des Produktes erhoben. Die doppelte Erkenntnis steckt dahinter: nicht nur beim angepriesenen Erzeugnis, sondern auch beim anpreisenden Werbemittel ist Qualität die beste und billigste Werbung. Und betrachten wir den schöpferischen Aspekt dieser Alltagsartikelplakate, so besticht immer wieder der Überraschungsmoment im Einfall und die eingestreute Prise Ironie. Und es erweist sich, wie beliebt das Kompositionsmodell einer Verbindung freier grafischer Formulierung mit einer Darstellung von fotografischer Exaktheit ist.

plakat-06-0609Nicht zuletzt bei Markenartikeln finden wir eine erfrischende Sachlichkeit, mit Hingabe und Meisterschaft von den Grafikern der „Basler Schule“ wie Burkhard Mangold, Niklaus Stoecklin, Donald Brun, Herbert Leupin oder Fritz Bühler ins Weltformat gebannt. Zugegeben, auch früher schon wurden wesensverschiedene Komponenten auf dem gleichen Plakat vereint. Heute betrachtet, würden wir allerdings von unfreiwilligem Humor sprechen. Denn die guten Muster eines Humors und einer gesunden Komik lehrten uns ein differenzierteres Betrachten und bewiesen, dass ein witzig pointierter Esprit auch werbe mässig anzusprechen und den Werbenden offensichtlich Erfolg zu verheissen vermag.
Donald Bruns Plakate könnten hiefür aufgerufen werden. Und Eleganz mit überzeugender Sachlichkeit und einer geschickten Verbindung von Bild und Slogan im Plakat vorzutragen war die beneidenswerte Begabung des zu früh verstorbenen Pierre Gauchat. Vom Alltag abzulenken, für einen Augenblick andere Gedanken in den Vordergrund zu stellen, ein fröhliches Zuzwinkern bereitzuhalten – auch dies liegt im Wirkungskreis des Plakates. Wer liesse sich denn zuweilen nicht gerne etwas vom Essen und Trinken berichten und von den Dingen, die dazugehören? Bei Celestino Piattis Plakaten, ersetzt oft die erzählerische Anekdote die genaue Detailzeichnung. Die starke, schwarze Linie sichert dem thematischen Apreçu stets eine grosse Fernwirkung zu. Herbert Leupin verwendet Stile und Manieren als blosses Mittel zum Zweck und kann bei aller Sicherheit in mancherlei Sätteln seine persönliche Handschrift nie verleugnen. Vielfach folgt er dem Wort des französischen Künstlers Raymond Savignac „Ich glaube, dass die Menschen vom ganzen Drum und Dran ihres Lebens so gelangweilt sind, dass die Werbung die Verpflichtung hat, unterhaltend zu sein.“ Die Tatsache, dass wir dem Plakate nicht ausweichen können und es überdies auch nicht mehr wegdenken wollen, ohne dass im Strassenbild eine beklemmende Leere einträte, formt aber gerade seine Bildsprache z einem starken Werbeträger. Selbst das anspruchsvolle Plakat zwingt uns, oft nicht zuletzt durch seine suggestive Aussage, zur Aufmerksamkeit. Der Anteil der guten, überdurchschnittlichen Plakate an der Gesamtproduktion ist in keinem Lande so gross wie in der Schweiz. Dahinter steckt, still und verborgen beinahe, ein jahrzehntelanger Kampf, die künstlerische Qualität zu heben. Die jährlichen Auszeichnungen der besten Plakate stellen eine wertvolle Unterstützung dieser Bestrebungen dar. Dass die Ausstellungsplakate, diese Appelle zum Schauen und Geschautwerden, auch in den Auktionskatalogen reich vertreten sind, mutet fast selbstverständlich an. Und selbst die Wahlplakate sind nicht blosser Schrei nach möglichst vielen Stimmen, sondern vielfach farbig und grafisch gemeisterter, überzeugungsstarker Anruf. Was bleibt, ist die Direktheit des Ausdruckes und des Angesprochenseins. Auf den Plakaten für Sammlungen, die zur Linderung einer Not aufrufen, findet heute die billige Sentimentalität keinen Platz mehr. Nicht mit drastischen Elendsdarstellungen wird um Hilfe gebeten, sondern mit Arbeiten, die unsere Sympathie erwecken und eine künstlerische Note in den Alltag hineintragen. Und für manche der Plakate könnte der Begriff von der strenger gebundenen Darstellung, der auf eine sinnbildhafte Prägnanz hin stilisierten Formulierung gelten. In ihr gibt der Plakatkünstler statt des reinen Bildes ein Symbol. Er umschreibt einen Begriff. Einem solchen Gestaltungswillen verbinden sich oft besonders gut und eindrucksvoll die Schriftzeichen, sind sie doch jedem Wirklichkeitsvorbild entrückt und rein abstrakte Gebilde. Mit der Gruppe der Verkehrsplakate wird ebenfalls in erstaunlichem Reichtum ein Querschnitt durch die Zeit, deren getreuer Spiegel das Plakat ist, getan. Die Künstlerplakate von Alois Carigiet, Max Gubler oder Ernst Morgenthaler aus den 30er, 40er und 50er Jahren rufen bereits auf, sie vieldeutig zu verstehen:

plakat-209383„Mit der Bahn hinaus ins Freie“ oder „Mit der Bahn abseits der Strasse“. Mit dem Wandel der Zeit hat sich das Denken geändert. Der Mensch im technisierten Zeitalter will nicht mehr an die Technik erinnert werden, sondern daran, wie er ihr für Stunden entfliehen kann! Die geistige Aussage wandelte sich Geblieben ist nur – und darüber dürfen wir uns freuen – das Bekenntnis zu den Künstlern, denen immer wieder der Auftrag zukommt, von der Schönheit einer Landschaft und vom Glück des Reisens zu künden. Der freie Künstler wird, wenn er einmal vom Gemälde zum Plakat wechselt, aber nie seinen eigenen Formwillen beiseitestellen. Die ungebundenere Gestaltung suchte ihre Bildwirkung in malerischen Qualitäten. Bei aller Zweckgebundenheit überrascht darum immer wieder die Freiheit im Künstlerischen. Als Künstler gelang es ihnen aber gleichwohl, in einer einmaligen Synthese Geist und Anmut eines Ortes oder einer Region uns nahezubringen. Der Kreis ist geschlossen. Facettenreich halten die Plakate uns einen Zeitspiegel vor. In der Fülle der Möglichkeiten finden sich die künstlerischen Strömungen und Wandlungen von Richtungen, Sehweisen, Ausdrucksformen, Modetendenzen vor: vom Jugendstil zu Hodler Reform, von einem massvollen Impressionismus und Expressionismus zur „neuen Sachlichkeit“ und zur noch neueren Ungegenständlichkeit. Zeichnerisch lineare Manier wechselt mit tonig malerischer Darstellungsweise ab, und alle Vorstufen und Stufen der Abstraktion sind zu entdecken. Und dass natürlich auch die Sachfotografie an sich oder als Mittel zu besonderen Zwecken nachhaltig auf das Plakatschaffen eingewirkt hat, zeigte sich deutlich. Tritt damit aber nicht eine beginnende Verarmung zutage und behält am Schluss doch jenes Wort recht, das die Behauptung wagt, die künstlerischen Arbeiten – auch im Bereich Fotografie – würden sich am längsten halten?